Immer wieder zieht es Heinrich R. auf den Deich beim Denkmalhof. Denn von dort hat er einen guten Blick ins Vorland, wo noch die alten Linien der Sommerdeiche zu sehen sind. Sie schützten die Häuser von Bitterwerder. Die Höfe wurden 1974 abgerissen. „Heini“, wie ihn alle nennen, ist dort aufgewachsen. Seit Jahrzehnten sammelt er alles über Bitterwerder und ganz besonders über das Gasthaus zur „Kastanie“.

Er hat einen dicken Aktenordner mitgebracht mit vielen kleinen Dokumenten – Rechnungen, Fahrpläne, Statistiken, alte Zeitungsberichte. Auch die Einkaufsliste für die LPG-Feier findet sich darin. Und manches Foto von den Sommerfrischlern, die mit Linienschiffen aus Hamburg kamen und unter der mächtigen Kastanie bei der Gastwirtschaft saßen. Denn die „Kastanie“ hatte wegen ihrer Fischküche einen legendären Ruf.

Phönix

Heute erinnert eine orangefarbene Skulptur an die Siedlung. Der Bildhauer Klaus Großkopf (1939-2017) hat sie aufgestellt und „Phönix“ genannt. 5.50 Meter hoch ist das Kunstwerk aus Eiche. Bisher reichten die Jahrhunderthochwasser (2002-2006-2013) kaum an den Fuß der Skulptur. Die Elbe hat hier eine wasserdichte Erhebung hinterlassen nach Abschmelzen der letzten Eiszeitgletscher vor rund 15.000 Jahren, als sie diese Landschaft geformt hat. Auch die Bewohner in Bitterwerder hatten weder Wasser in ihren Häusern noch in den Kellern. Kein Wunder also, dass Bitterwerder schon im 12. Jahrhundert besiedelt worden war.

Bitterwerder bestand zunächst aus einer „Holländerei“, einer Milchwirtschaft. Später kamen die Gastwirtschaft „Zur Kastanie“ und als dritter Hof das „Fischerhaus“ dazu.
„Wir waren 33 Menschen im Jahr 1960 und es gab nur einen einzigen Streit – um Wäsche“, erinnert sich Heinrich R., der so viele Geschichten erzählen kann. Wie zum Beispiel diese hier vom Kriegsende 1945:

„ Als die Russen kamen, vergrub eine Frau ihr Hochzeitskleid und auch einige Flaschen Wein. Die Soldaten aber stocherten mit Eisenstangen überall im Erdreich rum und fanden alles.“

Wie eine Schlinge

Heinrich R. erzählt dann aus der DDR-Zeit: Im Lauf der Jahre legte sich die Grenze wie eine Schlinge immer enger um die Bewohner von Bitterwerder. „Erst dürfen die Kühe nicht mehr an die Elbe, später wird der Tanzsaal geschlossen. Tag und Nacht laufen die Hunde an ihrer Kette vorbei.“ Seit die Dorfschule in Bitter geschlossen ist, müssen alle Kinder mit dem Bus nach Kaarssen in die Schule. Bei Hochwasser werden sie mit einem Elbkahn zum Deich gefahren. Und im Winter haben sie den größten Spaß daran, auf den vereisten Wiesen Schlittschuh zu laufen. Heinrich R. weist auf eine kaum noch sichtbare Kuhle in der Wiese Richtung Fährweg. „Dort war unser kleiner Sportplatz mit einer Sprunggrube. Später hatten wir noch eine andere Kuhle. Die war befestigt und mit Wasser gefüllt. Darin haben wir die Fische für die Gastwirtschaft und zum Verkauf gehältert, damit der Phenolgeschmack aus der Elbe rausgeht.“

Am Ende steht 1974 der Streckmetallzaun auf dem Deich. Damit ist das Leben in der kleinen alten Siedlung zu Ende. Sie wird kurz darauf abgerissen.