Neulich war so ein spontanes Treffen auf der Bank rund um die mächtige Eiche in Bitter an der Bushaltestelle (mit Büchertausch). Bis 1974 war hier Wiese, wird erzählt, der Baumriese mitten drauf. All die vielen Jahrzehnte zuvor beschirmte er Blaskapelle und Tanzboden beim Dorffest, war auch natürlicher Blitzableiter für die umstehenden Höfe.
Die heutige Kreisstrasse entstand erst, nachdem der Metallstreckzaun auf dem Deich fertig war. 1974 war das. Bis dahin war jahrhundertelang der Weg auf dem Deich die einzige Verbindung zwischen den Dörfern. Hier bei der Eiche führte ein „Modderweg“ vom Deich herunter Richtung Norden nach Kaarssen. Vorbei an den Baracken, die Mitte der 1950er Jahre die Grenzer gebaut hatten.

Traum vom Fischmehl

An dieser Stelle kommen die „Kaarßener Notizen“ der Schweriner Volkszeitung aus dem Dezember 1960 kurz ins Spiel. „FPG Elbe – klein aber oho!“ steht über dem ganzseitigen Artikel. Es geht darin um die FischereiProduktionsGenossenschaft FPG ‚Elbe‘ in Bitter – es können Netze und Reusen gelegt werden auf 45 Flusskilometern, von Rüterberg bis Horst stromauf, stromab. Das verspricht reiche Beute. Und um die Pläne der 10 Genossen für die Zukunft: Nach dem Vorbild eines Betriebes in Wismar wollen die Bitterschen Fischer eine eigene Fischmehl-Produktion aufbauen. Denn es fällt viel Futterfisch an. Der Kreis Hagenow, schreibt die Zeitung, ist begeistert, gibt Geld und Material. So wird der Bau innerhalb von acht Tagen am Ortsausgang hochgezogen. „100 Zentner Fischmehl sollen schon zu Jahresbeginn 1961 erzeugt werden.“

Aber das neue Geschäft wird nichts. In den Beton-Buchten modern die Beifang-Fische einfach nur vor sich hin. So entsteht garantiert kein Fischmehl, wohl aber fürchterlicher Gestank. Mehr wurde nicht draus - aus der Traum von der Fischmehl-Fabrik in Bitter. Nur die Kinder machen sich einen Spaß daraus und entwickeln noch lange einen Wettkampf, der zum Himmel stinkt: Wer‘s am längsten in der „Fischbude“ aushält, ist Sieger.



 

Heimlich am TV - West

1960 in Bitter – vieles auf dem Land wird in Genossenschaften neu strukturiert. „Großraum-Wirtschaft“ ist die neue Richtung, so habe man mehr Tiere an einem Ort und damit eine bessere Zucht. Die Bewohner werden verpflichtet, bestimmte Mengen Vieh oder Korn oder Tabak abzuliefern. Statt der christlichen Konfirmation gibt es nun die staatliche Jugendweihe. In der Elbe verschwinden die letzten Flusskrebse, die gefrässige Wollhandkrabbe macht sich breit. Und in den Häusern hinterm Deich werden das eine oder andere Mal die Antennen heimlich in den Westen ausgerichtet. Kinder passen auf, dass kein Offizieller sich nähert und die Hausbewohner bei Werner Höfers „Frühschoppen“ überrascht. Ein Bewohner, damals 10, erinnert sich:
„Ich habe am Wochenende abends mit meiner Schwester gewettet, wer zuerst einschläft beim Fernsehen. Aber zum „Wort am Sonntag“ waren wir alle wieder wach. Dann gab es Kaffee und Kuchen und wir haben noch bis morgens um 2 Uhr zusammen gesessen.“
Nicht nur Fernsehen West mit Millowitsch und Bayernstadel gehört um diese Zeit zum Alltag in Bitter, sondern auch Hausmusik, Chorsingen, Tanzen. Und wie gerne wurde gefeiert, auch wenn man nach der Arbeit so müde war. „Trotz der strengen Auflagen, trotz des Materialmangels – wir waren so viele Kinder und konnten herrlich spielen. Erst mit der Pubertät wurde es schwierig für uns, denn wir kamen ja nicht richtig weg hier.“ (H.). Manch Erwachsener aber legt sich abends jetzt mit Sorgen ins Bett.

 Die Grenze

In den nächsten Jahren wird die Grenze auf dem Deich und im Vorland zum Elbufer hin befestigt. An langen Ketten laufen Hunde. Auf dem Deich sind Patrouillen rund um die Uhr unterwegs, mehrere Wachtürme werden errichtet aus Holz oder Stein. Das hat Annette Kühnel (©) in einer Skizze festgehalten. Der Streckmetallzaun steht ab 1974.


„44 Jahre DDR-Zeit in Bitter waren sehr unterschiedlich. Es gab ganz schlimme Zeiten mit Schießbefehl, aber auch entspanntere Zeiten. So spielten die Grenzer anfangs noch gemeinsam mit den Dorfkindern an und in der Elbe, man feierte auch mal zusammen. Dann jedoch regierte sehr lange die Angst. Am Ende aber konnten wir sogar politische Witze machen“, schildert ein Dorfbewohner. Er war gerade 7 Jahre alt geworden, als 1961 die zweite Welle der Zwangsaussiedlungen an der DDR-Grenze 59 Menschen aus 17 Dörfern im Amt Neuhaus wegschafft irgendwohin ins Landesinnere. Schon 1952 waren Menschen über Nacht zwangsausgesiedelt worden. (Einzelnen Schicksalen ist die Autorin Karin Toben aus dem benachbarten Dorf Rassau in ihren Büchern nachgegangen). Manchmal sind es Nachbarn, die angebliche „politische Unzuverlässigkeit“ melden. Das treibt auch eine junge Familie aus Herrenhof am Ende in die Flucht über die Elbe. Davon mehr an anderer Stelle.
Viele Jahre später entspannt sich das Ost-West-Verhältnis und es kommt am Ende zum Fall der Mauer. In Bitter-Herrenhof öffnet sich das Tor zur Elbe erstmals am 19. November 1989 für die hiesige Bevölkerung. Am Ufer wartet eine Fähre und bringt hunderte Bewohner aus der ganzen Gegend in den Westen nach Hitzacker.

Im Juni 1993 wird das Amt Neuhaus an Niedersachsen rück-übertragen. Zurück ins Hannover`sche und nach Lüneburg als Kreisstadt. Die Bewohner brauchen eine Fähre, um dorthin zu gelangen. Eine nach der Wende versprochene Brücke ist bisher nur geplant, aber nicht gebaut. Postleitzahl und Telefonvorwahl aus dem Meck-Pomm-Bereich sind geblieben. Auch wird hier mehrheitlich die „Schweriner Volkszeitung“ gelesen und kaum die „Lüneburger Landeszeitung“.

 

Zurück zur Bank an der Dorfeiche, dort werden ein paar Leckereien ausgepackt. Thema ist das bevorstehende Osterfeuer am Dorfhaus. Seit der Dorfverein „Elbufer“ die heruntergekommene Grenzerbaracke kaufen konnte, haben viele Bewohner gezimmert, gemalt, gespachtelt, gemauert undundund. Das hat die Dorfgemeinschaft gefestigt. Das Haus aus den 50er Jahren ist nun lebendiger Mittelpunkt für die Dörfer ringsum und bietet ein abwechslungsreiches Programm. Im Sommer wird es erweitert durch Theater-Aufführungen im „Alten Kneipensaal“ von Strachau..

Obstvielfalt

Die sehr alte Dorfstrasse von Bitter führt vom Grenzerhaus rechts in einem großen Bogen weit um das Dorf herum. Alte Apfel- und Birnenbäume säumen den Weg aus handbehauenen Granitquadern. Im Rahmen eines Landesprojekts wurden die Sorten bestimmt und mit Namensschildern versehen. Obstgeschichte zum Anfassen und Probieren. Hier steht auch einer der wenigen alten Bäume der Sorte „Gelber Richard“. Diese Mecklenburger Züchtung wird erstmals um 1850 erwähnt und war zuletzt kaum noch zu finden.
Historische Apfelalleen wie die in Bitter sind eine Schatzkammer für Obstzüchter und unersetzlich für die Nachzucht alter Sorten. Erhalten ist diese wie auch andere ähnliche Obstalleen, weil das Obst in DDR-Zeiten für gutes Geld verkauft werden konnte. Die Strassenbäume gehörten zur Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG).

Nach der nächsten Kurve ragt links schon bald der Granit mit dem Hochwasserpegel von 1880 aus dem Gras. Brusthoch soll die nach einem Deichbruch entfesselte Elbe an dieser Stelle gestanden haben. Bis in die Wohnstuben von Bitter hatte sie es nicht geschafft. Denn die liegen allesamt höher - 12 Meter über Normalnull (NN). Das klingt nach nichts, ist aber viel verglichen mit dem flachen Hinterland, das mancherorts nicht mal 2 Meter über NN liegt.

Nun einmal über die Kreisstrasse und zum Deich - da landen wir schon bei dem einzigen Denkmalhof im Dorf, ein ehemaliges Rauchhaus von 1751. Das Zwei-Ständer-Haus ziert den Titel der Denkmalbroschüre für das Amt Neuhaus. Von hier aus gut zu sehen ist das gegenüberliegende Hitzacker. Das Städtchen hat sehr viel mit der Dorfgeschichte zu tun hat. Setzen wir uns doch auf die „Blaue Bank“ und hören, was hier „von Früher“ erzählt wird.